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Was genau ist eigentlich Jingfang-Medizin?

Von Andreas Kalg

„Jingfang“ (gesprochen „dsching-fang“) mag für viele einfach ein unaussprechliches Fremdwort sein. Dabei verkörpert es den ursprünglichen Geist der Chinesischen Medizin, bezieht sich auf die klassischen Rezepturen aus dem Shang Han Za Bing Lun (Abhandlung über Kälte-induzierte und diverse andere Erkrankungen). 

„Jingfang“ ist in den letzten 10 Jahren weltweit bekannt geworden, ja die klassische Chinesische Jingfang-Medizin erlebt eine beispiellose Renaissance – zum ersten Mal nicht nur in China, Japan oder Korea, sondern auch im Westen, also in Europa und Amerika. In China wie auch im Westen sind in den letzten Jahren sehr viele Publikationen zum Thema Jingfang erschienen und es werden auch immer mehr Seminare hierzu angeboten. Ist das nur eine Modewelle oder mehr? Ich bin davon überzeugt, dass dies weit mehr ist als ein temporäres Phänomen; es ist die Rückbesinnung auf das Fundament der Chinesischen Medizin, eine Back-to-the-roots-Bewegung, welche die TCM nachhaltig verändern wird. In China war es vor allem Prof. Huang Huang von der TCM-Uni in Nanjing, der mit seinem Charisma dieser Bewegung ein Gesicht gegeben und zu weltweiter Popularität geführt hat. Aber er ist mitnichten der einzige Jingfang-Meister unserer Zeit. Es gibt in China und Japan viele Ärzte, die sich der klassischen Chinesischen Medizin gewidmet haben und diese in der Praxis anwenden. Es gibt auch verschiedene Stilrichtungen innerhalb der Jingfang-Medizin. Während Huang Huang sein Jingfang-System auf Konstitutionstypen aufgebaut hat, orientieren sich Hu Xishu und Feng Shilun ausschließlich an den sechs Stadien (liu jing) und den acht Leitkriterien (ba gang), wobei sie die Musterdifferenzierung und Behandlung nach Organen (zang fu) grundsätzlich ablehnen. Lou Shaokun betont vor allem das Rezepturenmuster (fang zheng) und legt dabei besonders großen Wert auf die Bauchdiagnostik. Ein gemeinsames Merkmal dieser verschiedenen Strömungen ist, dass sie die moderne „TCM“ kritisch betrachten, nicht unbedingt komplett ablehnen, aber deren Schwächen thematisieren und zu einer Rückbesinnung zu den Wurzeln der Chinesischen Medizin aufrufen. Denn die so genannte „Traditionelle Chinesische Medizin“ basiert zwar auf einer langen Tradition, ist aber als solche erst 60-70 Jahre alt. Man hatte auf Geheiß von Mao Zedong die traditionelle Chinesische Medizin mit all ihren verschiedenen Strömungen, Theorien und Praktiken in ein möglichst einheitliches, logisch erklärbares und widerspruchsfrei lehrbares System gequetscht, was seither unter dem Namen „TCM“ existiert. Dies hatte den Vorteil, dass es an Universitäten gelehrt und geprüft werden konnte. Es erschienen Lehrbücher, die für die folgenden Generationen von Ärzten verbindlich sein sollten. Damit wollte man ein wissenschaftliches System etablieren, das der modernen westlichen Medizin ebenbürtig gegenüberstehen kann. Es wurde auch eine wirkstoff-orientierte pharmakologische Forschung etabliert, welche die Wirksamkeit der chinesischen Heilkräuter belegen sollte – was auch gelungen ist. Doch letztlich sind dies alles Versuche, sich der modernen wissenschaftlichen Medizin gegenüber zu behaupten. Es waren also Bestrebungen aus einem Gefühl der Minderwertigkeit heraus. Die Begründung der zeitgenössischen TCM beruht quasi auf einem Minderwertigkeitskomplex. Das hat die Chinesische Medizin nicht nötig! Sie ist ein eigenständiges Medizinsystem, das sich nicht durch Systematik um der Systematik Willen anbiedern muss. Bei dem Versuch, sich zu behaupten, hat man sich nahezu selbst enthauptet oder genauer gesagt, entwurzelt.

Bei der Etablierung der modernen TCM wurde besonders viel Wert auf die Fünf-Wandlungsphasen-Theorie und die Zang-Fu-Theorie aus dem Inneren Klassiker gelegt. Vernachlässigt wurden stattdessen neben spirituellen oder esoterischen Inhalten auch die rein praktische Erfahrungsmedizin. Doch diese empirisch gewachsene Medizin, die nach einem simplen Wenn-dann- oder Wenn-dann-nicht-Prinzip funktioniert, wurde dadurch in den Hintergrund gedrängt. Was nicht durch die Fünf-Wandlungsphasen-Theorie logisch erklärbar war, fand keine Aufnahme in das neue Lehrgebäude der TCM. So kam es, dass die einfachsten und effektivsten Behandlungsstrategien der Chinesischen Medizin in Vergessenheit geraten sind. Stattdessen hat sich die TCM in einem Wust von komplizierten und beliebigen Theorien verfangen. Mit der Fünf-Wandlungsphasen-Theorie kann man alles und nichts erklären; man kann sich die Sachen so drehen, wie man sie gerne hätte. Es ist ein faszinierendes naturphilosophisches Konstrukt, aber für die praktische Medizin mit Heilkräuterrezepturen ist es nur wenig geeignet. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass sich Theorien zwischen den Therapeuten und den Patienten geschoben haben. Man sieht den Patienten durch eine Brille. Das kann die Fünf-Wandlungsphasen-Brille sein oder die Schule-der-Mitte-Brille oder die Yang-Mangel- oder die Yin-Mangel-Brille. Doch all diese Brillen bzw. Theorien vernebeln unseren Blick auf den Patienten; sie führen zu vorgefassten Meinungen und folglich zu unpassenden Therapien. Es ist das Ziel der Jingfang-Medizin, die Chinesische Medizin aus diesem Wust an Theorien herauszulösen, sie zu befreien und zu alter Stärke zurückzuführen. In der Praxis sollte das Augenmerk allein auf der Symptomatik des Patienten liegen. Zu viele Theorien lenken uns nur davon ab, den Patienten unvoreingenommen wahrzunehmen. 

In den Klassikern der Chinesischen Medizin wie dem Shang Han Lun und dem Jin Gui Yao Lüe sind für jede Rezeptur Rezepturenmuster beschrieben worden, also eine Symptomenkonstellation, die für eine bestimmte Rezeptur pathognomonisch ist. Diese Symptomenkonstellation nennen wir das Rezepturenmuster (fang zheng 方证). Ziel des therapeutischen Handelns muss darin bestehen, dieses Rezepturenmuster zu erkennen und mit der entsprechenden Rezeptur oder einer Kombination von entsprechenden Rezepturen zu behandeln. Dies erfordert zum einen die Kenntnis der Klassischen Rezepturen und ihrer Rezepturenmuster, wie auch eine gut geschulte Beobachtungsgabe. Und bei der Beobachtung des Patienten stehen uns Theorien oft nur im Weg. Schwitzen ist Schwitzen und Durchfall ist Durchfall. Das sind klare Symptome. Nur wenn ich anfange, jeden Durchfall als Milz-Qi-Schwäche oder jedes Schwitzen als Lungen-Qi-Schwäche zu interpretieren, bin ich in meinem Kopf, nicht mehr beim Patienten. Diese Theorien können mich zu einer Rezeptur führen, die mit der aktuellen Erkrankung des Patienten nichts oder nur wenig zu tun haben. Stattdessen sollte man versuchen, das Schwitzen oder den Durchfall anhand der Begleitsymptomatik und anhand von Puls-, Zungen- und Bauchdiagnostik einem Rezepturenmuster (fang zheng) zuzuordnen. Dann wird man die passende Rezeptur zur Behandlung der aktuellen Erkrankung finden. Ganz ohne Ordnungssystem kommt man zwar auch nicht aus, aber es genügt ein einfaches Prinzip wie das der Acht Leitkriterien. Ohne Theorien im Hinterkopf kann man Symptome nach Fülle und Leere, Innen und Außen, Hitze und Kälte einordnen, somit nach dem fundamentalen Ordnungsprinzip Yin und Yang. Daneben finden wir noch ein weiteres Ordnungsprinzip in Shang Han Lun, das der sechs Stadien (liu jing). Das Sechs-Stadien-Prinzip kann man wiederum auch nach den Acht Leitkriterien verstehen, wie es z.B. Hu Xishu propagiert hat. Das genügt. Weniger ist mehr!

Begriffsklärung

Was bedeuten eigentlich „Jing“ und „Fang“? 

Jing (jīng 經) hat viele verschiedene Bedeutungen. Wir kennen den Begriff aus der Akupunktur, wo er die Leitbahnen bezeichnet. Im Altertum hat dieses Schriftzeichen nicht nur Leitbahnen, sondern auch Leitlinien bezeichnet, wie sie in den klassischen medizinischen Schriften zu finden sind. So erhielt das Schriftzeichen jīng 經 auch die Bedeutung von „Klassiker“ oder „klassisch“, die nun in unserem Kontext maßgeblich ist. Mit „Klassiker“ ist hier unausgesprochen das klassische Werk Shang Han Za Bing Lun gemeint, welches eine Zeitlang verschollen war und später in Form von zwei Werken, dem Shang Han Lun und dem Jin Gui Yao Lüe, neu kompiliert wurde. Das „Jing“ im engeren Sinne bezieht sich eben auf diese beiden Klassiker, im weiteren Sinne auch auf andere frühe Werke der Chinesischen Medizin. 

Fang“ (fāng 方) hat ebenfalls viele verschiedene Bedeutungen. Es steht unter anderem für Richtung oder Himmelrichtung. Schließlich bezeichnete man in den klassischen medizinischen Werken auch die Rezepturen und die Methode ihrer Zubereitung mit diesem Schriftzeichen. So hat „Fang“ in unserem Kontext die Bedeutung von arzneilichen Rezepturen samt ihrer Zubereitung und Anwendung. Es kann auch Methode bedeuten.

Zusammen ergibt Jing Fang also „Klassische Rezepturen“ oder „die Lehre der Anwendung der Klassischen Rezepturen“ oder „die klassische Methode“.  Im Japanischen bezeichnet der Name „Kampo“ analog die Methode der Anwendung der Klassischen Chinesischen Rezepturen. In chinesischer Aussprache liest sich Kampo „Hanfang“ 漢方, was wörtlich übersetzt „die Lehre der Anwendung der Chinesischen Rezepturen“ bedeutet, oder einfach „Chinesische Rezepturen“ oder „die Methode der Han-Chinesen“. In Japan hatte man die späteren medizinischen Entwicklungen des chinesischen Mittelalters nicht mitgemacht, sondern hat die Chinesische Medizin in ihrer ursprünglichen Form übernommen und auf dieser Basis weiterentwickelt und verfeinert. Man kann ohne Wenn und Aber behaupten, Kampo (Hanfang) ist Jingfang. Kampo ist praktisch eine Stilrichtung oder regionale Ausprägung innerhalb der Jingfang-Medizin.

„Klassische Rezepturen“ meinem im engeren Sinne zwar ausschließlich die Rezepturen aus dem Shang Han Lun und Jin Gui Yao Lüe, doch werden sowohl im Kampo als auch in manchen anderen Jingfang-Systemen Rezepturen aus anderen frühen Werken der Chinesischen Medizin mit einbezogen. Im Allgemeinen gilt die Song-Dynastie (960-1279 n.Chr.) bzw. das 11. Jahrhundert als historische Grenzlinie, bis wohin die medizinischen Werke als klassisch gelten. Danach, ab den Jin- und Yuan-Dynastien setzte dann eine Zersplitterung in verschiedene Denkrichtungen oder „Schulen“ der Chinesischen Medizin ein. Die Theorien wurden immer komplexer und die Rezepturen immer größer. 

Frühe medizinische Werke, die auch als klassisch angesehen werden, sind insbesondere das Wài Tái Mì Yào (Wichtiges und Vertrauliches aus der Kaiserlichen Bibliothek) von Wang Tao, das Qiān Jīn Yào Fāng (Tausend-Golddukaten-Rezepturen) von Sun Simiao und Tài Píng Huì Mín Hé Jì Jú Fāng (Rezepturensammlung des kaiserlichen Medizinalamts der Taiping-Ära), herausgegeben 1107 von Chén Chéng et al. im Auftrag des Kaiserlichen Medizinalamts. Aus letzterem Werk stammen so berühmte und wertvolle Rezepturen wie Si Wu TangXiao Yao San oder Ping Wei San. Daher werden diese Rezepturen auch gern im Kampo wie auch in einigen Ausprägungen der Jingfang-Medizin verwendet. Es gibt zwar auch dogmatische, ausgrenzende Praktiker der Jingfang-Medizin, die darauf bestehen, dass nur Rezepturen aus dem Shang Han Za Bing Lun verwendet werden, doch an sich ist die Jingfang-Medizin offen für die Anwendung später entstandener Rezepturen, vorzugsweise kleiner und übersichtlicher Rezepturen, für die sich ein klares Rezepturenmuster beschreiben lässt. Im Jingfang-System gibt es den Grundsatz Fang Zheng Dui Ying 方证对应, was soviel bedeutet wie Rezeptur und Muster resonieren miteinander oder, bildlich ausgedrückt, die Rezeptur passt zum Erkrankungsmuster des Patienten wie ein Schlüssel zu einem Schloss. Wenn man dieses Prinzip beherzigt, spielt es keine Rolle mehr, ob eine Rezeptur aus dem Shang Han Lun stammt, aus einem späteren Werk oder aus der eigenen Feder. 

Was ist das Wesen unserer Jingfang-Medizin?

Als Prof. Huang Huang das letzte Mal in Deutschland war, haben wir uns genau hierrüber unterhalten. Dabei hat er die Jingfang-Medizin mit dem Zen verglichen und die folgenden vier Eigenheiten genannt: natürlich, praktisch, einfach und klar, welche ich im Folgenden erläutern möchte.

  1. Natürlich (zì rán 自然)

Jingfang-Medizin ist natürlich, weil die Zutaten ihrer Rezepturen aus natürlichen Quellen stammen, überwiegend aus dem Pflanzenreich, zum Teil auch aus dem Mineral- oder Tierreich. Diese aus der Natur gewonnenen Rohstoffe werden auf natürliche Weise durch Zerkleinerung, Mazeration und Erhitzung zu Arzneimitteln verarbeitet. Es werden grundsätzlich die ganzen Pflanzen oder Pflanzenteile verwendet, keine chemisch isolierten Wirkstoffe.

Jingfang-Medizin ist in den meisten Fällen auch keine substituierende Medizin. Die Behandlung zielt meist darauf ab, natürliche Ausscheidungsprozesse des Körpers zu regulieren. Man arbeitet nicht gegen das Leben (wie Antibiotika), sondern mit dem und für den Organismus. Im Altertum kannte man noch keine Bakterien oder Viren; es war also nie Ziel der Behandlung, bestimmte Mikroorganismen abzutöten. Die antiken Behandlungsstrategien haben sich aus der genauen Beobachtung von Kranken entwickelt. Man hatte z.B. oft beobachtet, dass ein Mensch, der über ein normales Maß hinaus Wind und Kälte ausgesetzt war, erst Kopf- und Gliederschmerzen bekam und anschließend Fieber. Dann hat man die Beobachtung gemacht, dass das Fieber sinkt, wenn er schwitzt oder weiter ansteigt, wenn er nicht schwitzt. Daraus hat sich die diaphoretische Methode entwickelt, die den Patienten schwitzen lässt, wenn er Fieber im Anfangsstadium einer schweren Erkältung hat. Dann hat man aber auch Menschen erlebt, die in ihrem Krankheitsverlauf sehr stark oder sogar zu stark schwitzen, so dass sie durch Flüssigkeitsverlust einen Kreislaufkollaps erleiden und daran auch sterben können. Für diese Menschen hat man die schweißstillende Methode entwickelt, um den Verlust von lebenswichtigen Körperflüssigkeiten zu unterbinden. Analog hat man Methoden zur Behandlung von zu viel oder zu wenig Harnausscheidung, Durchfall oder Verstopfung, zum Stillen von Blutungen usw. entwickelt. Also die Basismethoden der klassischen Chinesischen Medizin beziehen sich auf das Regulieren von Ausscheidungsprozessen. Droht ein Mensch an einem Verlust von Blut oder anderen Körperflüssigkeiten zu sterben, muss man diesen Verlust unterbinden; staut sich Hitze im Körper, muss man diese über Schweiß-, Stuhl oder Harnausscheidung ausleiten. Erst im zweiten Schritt wird man verlorengegangene Substanzen zu supplementieren versuchen. 

Am Anfang der Medizin stand also die Beobachtung, dass bestimmte Erkrankungen mit zu starken Ausscheidungen bzw. Verlusten einhergehen (Durchfall, unaufhörliches Schwitzen, übermäßiges Wasserlassen) und dass andere Erkrankungen mit blockierten Ausscheidungsprozessen einhergehen (Verstopfung, Fieber ohne Schwitzen, zu geringe Harnausscheidung wie bei Oligurie, Anurie oder Harnverhalt). Die Regulierung von einem Zuviel oder Zuwenig an Ausscheidungsprozessen ist das Herzstück der Shang-Han-Lun-Medizin. Durch die Anwendung von natürlichen Arzneimitteln helfen wir dem Menschen, seine entweder zu starken oder zu schwachen Ausscheidungen zu regulieren. Dabei ahmen wir praktisch die von der Natur vorgegebenen Ausscheidungswege nach. Dies ist also eine im doppelten Sinn natürliche Medizin – mittels natürlicher Arzneimittel reguliert sie naturgegebene Ausscheidungs- und Selbstheilungsprozesse.

„Natürlich“ ist die klassische Chinesische Medizin auch, weil sie aus der Küche stammt. Nicht zufällig heißen die Kräuterabkochungen, die wir Dekokte nennen, wörtlich übersetzt „Suppen“. Aus dem Kochen von Heil- und Kraftsuppen aus natürlichen Zutaten hat sich die Chinesische Medizin entwickelt. Diese Entwicklung geht der Sage nach auf Yi Yin zurück, ein Eunuch, der sowohl begnadeter Koch, Heilkundiger und einflussreicher Berater des Kaisers der Shang-Dynastie war. Er soll die Suppen des nach ihm benannten Yi Yin Tang Ye Jing (Yi Yin’s Suppen-Klassiker) zusammengestellt und ihre medizinische Wirkung beschreiben haben. Dieses Werk ist ein direkter Vorläufer des Shang Han Lun

Alle in der Natur vorkommenden Substanzen sind von den antiken chinesischen Kräuterheilkundigen, Schamanen und Alchemisten auf ihre arzneiliche Wirkung hin untersucht und ausprobiert worden. In den klassischen Werken der Chinesischen Medizin finden wir also das Ergebnis einer vermutlich bereits Jahrhunderte währenden Suche nach wirksamen und sicheren natürlichen Arzneimitteln. Man kann vermuten, dass die Arzneidrogen zuerst nach den Prinzipien der Signaturenlehre ausgewählt und dann per „trial and error“ ausprobiert worden sind. Sinnbildlich dafür steht in der chinesischen Mythologie Shennong, der „göttliche Landmann“, der „alle 10.000 Kräuter“ selbst an sich probiert und ihre Wirkungen beschrieben haben soll. Die arzneiliche Wirkung der chinesischen Heilkräuter ist also in grauer Vorzeit von Generationen von Kräuterheilkundigen empirisch erforscht worden. Die Kräuter erhielten ihre Namen und bekamen ihre Wirkungen zugeschrieben. Dieses Erfahrungswissen bildet die Grundlage für die Dekokte, Pulver und Pillen der chinesischen Medizinklassiker. 

  1. Praktisch (shíyòng实用) 

Praktisch ist unsere Jingfang-Medizin, weil sie nicht theorielastig ist. Wir benötigen keine komplizierten Theorien, sondern handeln praktisch nach dem, was wir sehen und spüren. Für eine bestimmte Symptomenkonstellation (fang zheng) gibt es eine passende Rezeptur (fang). Hierbei handelt es sich um ein praxisorientiertes Wenn-dann-Prinzip. Siehst du eine bestimmte Symptomatik, gibst du eine bestimmte Rezeptur. Dieses Prinzip kommt in dem Leitspruch „Bei einem bestimmten Muster verwendet man eine bestimmte Rezeptur“ zum Ausdruck (yǒu shì zhèng, yòng shì fāng 有是证,用是方). Schauen wir uns als Beispiel Gui Zhi Tang an: Das Rezepturenmuster ist „Kopfschmerzen, Fieber, Schwitzen, Windabneigung, oberflächlicher, entspannter Puls“. Sehen wir diese Symptomatik im Rahmen einer Erkältungserkrankung, wissen wir, dass wir Gui Zhi Tang geben müssen. Doch können wir Gui Zhi Tang nicht nur bei fieberhaften Erkältungen anwenden, sondern auch bei allen möglichen anderen Erkrankungen, wenn sie mit den typischen, pathognomonischen Symptomen für Gui Zhi Tang einhergehen. Dabei müssen nicht unbedingt alle Symptome auftreten. Auch wenn ein Patient kein Fieber hat, aber die typische Gui-Zhi-Tang-Präsentation von leichtem Schwitzen, Windabneigung und oberflächlichem, nicht gespanntem Puls aufzeigt, können wir diese Rezeptur ungeachtet der modernen Diagnose anwenden. Hierzu benötigt man keine zusätzliche Theorie. Manche Ärzte erklären die Wirkung über die harmonisierende Wirkung auf Ying- und Wei-Qi, aber dies ist eine verzichtbare Erklärung. Die Rezeptur wirkt auch ohne Erklärung. Es bedarf lediglich der aufmerksamen Beobachtung und etwas Erfahrung, um diese Rezepturenmuster auch in abgeschwächter Form bei chronischen Erkrankungen erkennen zu können.

  1. Einfach und klar (jiǎndān 简单)

Die einfachsten Methoden sind oft die besten. Das gilt nicht nur beim Brotbacken oder Bierbrauen, sondern auch in der Medizin. So, wie viele künstliche Zusatzstoffe zwar das Aussehen von Nahrungsmitteln verbessern, ihre Verträglichkeit aber mindern, so sind auch die überwiegend kleinen Klassischen Rezepturen sehr gut verträglich, weil sie keine überflüssigen Bestandteile oder Zusätze enthalten. Die ursprünglichen Rezepturen aus dem Shang Han Lun bestehen meist nur aus zwei bis sechs Arzneikräutern, sind also sehr einfach und klar strukturiert. Jedes Kraut hat bestimmte Funktionen, wie z.B. Schwitzen anregen, Schwitzen stillen, Verstopfung auflösen oder Durchfall stillen etc. Kennt man die Wirkungen und Funktionen der einzelnen Kräuter, lassen sich auch die Wirkungen der Rezeptur ableiten. Man kann also sowohl Kräuter für bestimmte Symptomen auswählen, als auch umgekehrt von den Bestandteilen einer Rezeptur auf deren Wirkung schlussfolgern. Dies ist ein klares und logisches System. Spätere Rezepturen sind oft sehr groß und unübersichtlich, was es schwer macht, sie einem klaren Rezepturenmuster zuzuordnen. Wenn man, wie in der modernen TCM üblich, versucht, für jedes vermute Syndrom wie Leber-Qi-Stagnation, Milz-Qi-Mangel, Nieren-Essenz-Mangel, Nieren-Yang-Mangel etc. eine Kräuterkombination in die Rezeptur zu bringen, wird die Rezeptur nicht nur sehr groß – sie verliert auch ihren Fokus und eventuelle therapeutische Effekte oder Nebenwirkungen sind nur schwer zuzuordnen. Mit kleinen, einfachen klassischen Rezepturen kann man gezielter arbeiten und Reaktionen des Patienten besser zuordnen. 

Auch ist es für den Lernenden einfacher, sich eine überschaubare Zahl an relativ kleinen klassischen Rezepturen einzuprägen, als die schier endlose Zahl an großen und unübersichtlichen späteren Rezepturen. Die klassischen Rezepturen bestehen häufig auch aus einzelnen Bausteinen, also aus Kräuterkombinationen, die in verschiedenen Rezepturen immer wieder anzutreffen sind. Auch dies erleichtert das Lernen. 

Jingfang-Medizin in Deutschland 

Am Jingfang Institut Deutschland biete ich an verschiedenen Orten in Deutschland zusammen mit meinem Kollegen Dietmar Wohl und unseren Lehrern Huang Huang und Lou Shaokun als Gastdozenten immer wieder Aus- und Fortbildungen zu verschiedenen Themen der Jingfang-Medizin an. Ferner erforschen und übersetzen wir Werke der klassischen Chinesischen Medizin ins Deutsche. Bereits erschienen ist Prof. Huang Huang’s klinisches Handbuch „Die Klassischen Rezepturen der Chinesischen Medizin in der modernen Praxis“. Andere Werke werden in den nächsten Jahren folgen. 

Informationen zu unseren Seminaren finden Sie auf unserer Website www.jingfang-institut.de