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Die verschiedenen Variationen des Pulsatilla-Dekokts (Bai Tou Weng Tang 白头翁汤)

von Andreas Kalg und Dietmar Wohl

Das Pulsatilla-Dekokt (Bai Tou Weng Tang) stammt aus dem Shang Han Za Bing Lun. In den überlieferten Ausgaben des Shang Han Lun finden wir es in zw
ei Absätzen erwähnt und im Jin Gui Yao Lüe in einem Absatz. 

Pulsatilla-Dekokt (Bai Tou Weng Tang) aus dem Shang Han Lunund Jin Gui Yao Lüe:

Pulsatillae Radix (Bai tou weng) 6g
Coptidis Rhizoma (Huang lian) 9g
Phellodendri Cortex (Huang bai) 9gFraxini Cortex (Qin pi) 9g

Das Pulsatilla-Dekokt (Bai Tou Weng Tang) ist seit der chinesischen Antike eine sehr wirksame Rezeptur zur Behandlung von akutem Durchfall bei Dysenterie mit Blut und Schleim oder Eiter im Stuhl. Heute würden wir diese Art von Durchfall als infektiöse Gastroenteritis oder ruhrartige Dysenterie bezeichnen. Früher, als man noch keine Mikroorganismen kannte, hat man diese krankheitsauslösenden Angentien als Hitze-Toxine oder Feuchtigkeit-Hitze bezeichnet. Die Rezeptur Bai Tou Weng Tangklärt Feuchtigkeit-Hitze, löst Hitze-Toxine heraus, stillt akuten Durchfall mit Blut und Schleim oder Eiter im Stuhl. 

Neben der traditionellen Anwendung bei infektiösen Durchfällen wendet man Bai Tou Weng Tangheutzutage auch bei anderen Erkrankungen an, die mit Hitze-Toxinen oder Feuchtigkeit-Hitze im unteren Wärmebereich einhergehen. In der modernen TCM-Praxis in Europa wird man wahrscheinlich am häufigsten bei Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Harnwegsinfekten oder vaginalen Entzündungen Gelegenheit haben, diese klassische Rezeptur anzuwenden. 

 Typische Indikationen von Bai Tou Weng Tang gebe ich hier in Form einer Liste an:

  • alle Arten von infektiösen Durchfallerkrankungen, wie z.B. bakterielle Ruhr, Amöbenruhr, Salmonellose etc.;
  • akute oder chronische Gastroenteritis;
  • chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa oder Mb. Crohn im akuten Schub;
  • Fluor vaginalis (gelber Ausfluss), vaginaler Juckreiz;
  • Dysurie (Brennen und Schmerzen beim Wasserlassen)
  • Entzündungen im kleinen Becken (pelvic inflammatory disese – PID) etc. 

Doch nicht jede Art von Durchfall lässt sich erfolgreich mit Bai Tou Weng Tangbehandeln, sondern nur Hitze-Durchfall bzw. Hitze-Dysenterie. 

Wir in der Jingfang-Medizin beschreiben gern das so genannte Rezepturenmuster (Fang Zheng), um den Anwendungsbereich einer Rezeptur einzugrenzen. Mit Rezepturenmuster meint man die für eine Rezeptur typische Symptomenkonstellation. Üblicherweise findet man in der Praxis zwar sehr selten alle typischen Zeichen bei einem Patienten, aber wenn man zwei bis drei typische Symptome sieht, kann man guten Gewissens die Rezeptur verschreiben. 

Hier das Rezepturenmuster von Bai Tou Weng Tang, wie es sich aus den klassischen Quellen und aus der praktischen Erfahrung ableiten lässt:

  • Durchfall mit frischrotem Blut und Schleim oder Eiter im Stuhl im akuten Fall mit Fieber,
  • Bauchschmerzen, Tenesmen,
  • Brennen am Anus beim Stuhlgang, 
  • Durst, Verlangen nach kühlen Getränken, 
  • dunkler Urin, 
  • Zunge: rot, etwas trocken, eventuell mit gelblichem Belag,
  • Puls: schnell und saitenförmig, eher tief.

Der japanische Kampo-Arzt Otsuka beschrieb aus Hauptcharakteristika des Musters von Bai Tou Weng Tangfolgende Symptome:

  • Durchfall mit Blut und Schleim oder Eiter im Stuhl,
  • Durst,
  • Hitzegefühl am Anus und
  • Gefühl von unvollständiger Stuhlausscheidung (Rest-Stuhl-Gefühl).
  • Die Bauchschmerzen sind bei diesem Muster weniger stark ausgeprägt als bei den Rezepturen der Cheng-Qi-Tang-Gruppe mit Rhei Radix et Rhizoma (Da huang).

Im Rahmen unserer Forschungsarbeit am Jing-Fang-Institut Deutschland fiel uns auf, dass es eine ganze Reihe verschiedener Varianten dieser Rezeptur gibt, z.T. ganz unterschiedlicher Art. Diese Entdeckungen möchten wir in diesem Beitrag gerne mit der deutschsprachigen TCM Community teilen. 

In der heute allgemein verbreiteten Ausgabe des Shang Han Lunaus der Song-Dynastie finden wir die folgenden zwei Erwähungen von Bai Tou Weng Tang:

Im Absatz 371 des heißt es:

„Hitze-Durchfall mit Nach-unten-Drücken behandelt man mit Pulsatilla-Dekokt (Bai Tou Weng Tang).“  

Der Absatz über Bai Tou Weng Tangim Jin Gui Yao LüeKapitel 17 Absatz 43 ist identisch mit dem Absatz 371 des Shang Han Lun

Im Absatz 373 des Shang Han Lunwird diese Beschreibung fortgesetzt:

„Durchfall mit dem Verlangen Wasser zu trinken beruht auf Hitze. Pulsatilla-Dekokt (Bai Tou Weng Tang) behandelt dies.“  

Aus diesen beiden Absätzen des Shang Han Lunlernen wir unmissverständlich, dass es sich beim Rezepturenmuster von Bai Tou Weng Tangum eine Hitze-Erkrankung, genauer gesagt um Hitze-Durchfall handelt. Der Autor Zhang Zhongjing hat hier vorausgesetzt, dass der ärztliche Leser weiß, welche Symptomatik Hitze-Durchfall beinhaltet, also gelblicher, breiiger bis flüssiger, stark riechender Durchfall, dem meist auch Schleim, Eiter und Blut beigemengt ist. Der Defäkation gehen im Allgemeinen krampfartige Bauchschmerzen voraus, was er hier wörtlich als „Nach-unten-Drücken“ beschreibt. 

Hitze-Erkrankungen gehen im Allgemeinen mit Durst einher, hier insbesondere deshalb, weil der Patient über Durchfall und febriles Schwitzen Flüssigkeiten verliert. Dies kommt im Absatz 373 zum Ausdruck. 

In den erhaltenen Texten des Shang Han Lunund Jin Gui Yao Lüewird der blutige Durchfall als eigentliches Hauptsymptom dieser Rezeptur bestenfalls implizit, aber nicht ausdrücklich erwähnt. Große Teile der zweiten Hälfte des Shang Han Za Bing Lun, was wir heute als Jin Gui Yao Lüekennen, waren früher in Kriegswirren verloren gegangen und sind bis heute leider verschollen geblieben. Möglicherweise war der ursprüngliche Absatz zu Bai Tou Weng Tangim Jin Gui Yao Lüeein anderer als der, welcher heute in den Büchern steht. Vermutlich wurde dieser verschollene Teil aus dem Shang Han Lunrekonstruiert und ist daher identisch mit diesem. 

Sun Simiao aus der Tang-Zeit hatte in seinem Werk Tausend-Golddukaten-Rezepturen(Qian Jin Yao Fang) viele Rezepturen aus dem Shang Han Za Bing Lunübernommen, scheinbar noch bevor es verloren gegangen war. Daher lassen sich aus diesem Werk manche Rezepturen und Rezepturenmuster rekonstruieren. Im Werk Tausend-Golddukaten-Rezepturen wurde eine Variation von Bai Tou Weng Tangmit der Indikation von blutigem Durchfallunter anderem mit dem Zusatz des blutstillenden Arzneimittels Asini Corii Colla (E jiao) und des Schleimhaut regererierenden Glycyrrhizae Radix (Gan cao) aufgeführt. Diese und andere Variationen von Bai Tou Weng Tangwerden weiter unten in diesem Artikel noch wortwörtlich zitiert. 

Einen weiteren wichtigen Hinweis auf das Blut im Stuhl als eines der Hauptsymptome von Bai Tou Weng Tangfinden wir in dem Ming-zeitlichen Werk Rezepturen von universellem Nutzen(Pu Ji Fang)aus dem Jahr 1406 von Zhu Xiao et al.Dort wird Blut im Stuhl explizit erwähnt. Wörtlich heißt es dort:

„Pulsatilla-Dekokt (Bai Tou Weng Tang) behandeltHitze-Dysenterie, stockenden Durchfall und [rektale]Blutungen, was binnen eines Monats nicht geheilt ist.“ 

(Pu Ji Fang, Rolle 22)

Zur Behandlung dieser Beschwerden wird dann auch exakt die Originalrezeptur in gleicher Zusammensetzung und gleicher Dosierung empfohlen.

Für Kinder mit akuter, leicht febriler Dysenterie empfiehlt das Werk Rezepturen von universellem Nutzen(Pu Ji Fang) noch folgende Variation von Bai Tou Weng Tang:

Coptidis Rhizoma (Huang lian) 3g

Pulsatillae Radix (Bai tou weng) 1,5g

GranatiPericarpium(Shi liu pi), präpariert, 1,5g

Rhinocerotis Cornu (Xi jiao) 1,5g

Indikation: „Dysenterie mit Durchfall wie Fischgehirn bei kleinen Kindern aufgrund von Hitze-Toxinen. Die Hände und Füße sind sehr heiß.“(Pu Ji Fang, Rolle 397)

Hier haben die Autoren das relativ mild adstringierende Fraxini Cortex (Qin pi) quasi gegen die stärker adstringierende Granatapfelschale GranatiPericarpium(Shi liu pi) ausgetauscht und das bitter-kalte Phellodendri Cortex (Huang bai), was Kinder auch nur mit großem Widerwillen trinken würden, gegen das süß-kalte, Blut kühlende und fiebersenkende Rhinocerotis Cornu (Xi jiao).

In dem enzyklopädischen Werk Goldener Spiegel der Medizinischen Tradition(Yi Zong Jin Jian) aus der Qing-Dynastie von Wu Qian et al., erschienen 1742, wird das Muster von Bai Tou Weng Tangauch als blutig-eitrige Dysenterie beschrieben:

„Durchfall mit Eiter und Blut, Bauchkrämpfe und Tenesmen. Die akkumulierte Hitze ist bereits tief [vorgedrungen], weswegen man hier das sehr bittere und sehr kalte Pulsatilla-Dekokt (Bai Tou Weng Tang) gibt. Kälte kann Hitze überwinden und Bitteres kann Feuchtigkeit trocknen. Wenn Feuchtigkeit und Hitze beseitigt sind, wird das „Nach-unten-Drücken“ von selbst aufhören.“

(Yi Zong Jin Jian, Rolle 212)

In diesem Werk werden alle vier Kräuter gleich hoch dosiert, jeweils 9g:

Pulsatilla-Dekokt (Bai Tou Weng Tang) aus Yi Zong Jin Jian:

Pulsatillae Radix (Bai tou weng) 9g

Coptidis Rhizoma (Huang lian) 9g

Phellodendri Cortex (Huang bai) 9g

Fraxini Cortex (Qin pi) 9g

Ferner gibt es im gynäkologisch-geburtshilflichen Kapitel 21 des Jin Gui Yao Lüeeine Variation von Bai Tou Weng Tangmit Asini Corii Colla (E jiao) und Glycyrrhizae Radix (Gan cao), die Durchfall bei Frauen nach der Geburt behandelt, die durch Geburt und Durchfall extrem geschwächt sind. Dort heißt es: 

„Durchfall und extreme Erschöpfung nach der Geburt behandelt man mit demPulsatilla-Dekokt plus Süßholz und Eselshautgelatine (Bai Tou Weng Jia Gan Cao E Jiao Tang).“ (Jin Gui Yao LüeKapitel 21 Absatz 11)

Pulsatilla-Dekokt plus Süßholz und Eselshautgelatine (Bai Tou Weng Jia Gan Cao E Jiao Tang)

Pulsatillae Radix (Bai tou weng) 6g

Coptidis Rhizoma (Huang lian) 9g

Phellodendri Cortex (Huang bai) 9g

Fraxini Cortex (Qin pi) 9g

Asini Corii Colla (E jiao) 6g

Glycyrrhizae Radix (Gan cao) 6g

Hier wird Asini Corii Colla (E jiao) gleichzeitig zum Stillen von Blutungen und zum Supplementieren von Blut nach Blutverlusten verwendet. Glycyrrhizae Radix (Gan cao) gibt man hier zur Stärkung von Qi und Körperflüssigkeiten, um einem hypovolämischen Schock vorzubeugen und die Darmschleimhaut zu regenerieren.Das Hinzufügen von Asini Corii Colla (E jiao) und Glycyrrhizae Radix (Gan cao) erfolgt also, um Leere zu behandeln. Bei diesem Durchfall nach der Geburt haben wir praktisch eine komplexe Situation aus Leere von Blut und Körperflüssigkeiten auf der einen Seite und Hitze im Darm auf der anderen. Deswegen gibt man hier supplementierende und drainierende Kräuter gleichzeitig. 

Auch dieser postpartale Durchfall ist also eine Hitze-Dysenterie. Die Wöchnerin leidet unter Durchfall mit Blut und Schleim oder Eiter, Bauchschmerzen, Tenesmen, Fieber und Durst. Die Ursache des Durchfalls liegt nicht primär in der physischen Erschöpfung, welche die Geburt mit sich bringt, sondern in Hitze-Toxinen im Darm, die vermutlich über die Nahrung in den Körper gelangt sind. Aus moderner Sicht wird es sich hierbei auch um eine infektiöse Dysenterie wie Ruhr, Salmonellose oder dergleichen gehandelt haben. Nichtsdestotrotz ist es denkbar, diese Rezeptur auch bei toxischer Hitze im Darm nichtinfektiöser Art anzuwenden, namentlich bei autoimmunologisch bedingter Hitze im Darm mit blutigen Durchfällen z.B. bei Colitis ulcerosa. 

Man sieht also, dass Blut im Stuhl zum Rezepturenmuster von Bai Tou Weng Tanggehört, auch wenn es in den entsprechenden Absätzen des Shang Han Za Bing Lunnicht expressis verbis erwähnt wurde.

Andere Variationen von Bai Tou Weng Tang

Im Werk Fingerzeige berühmter Ärzte(Ming Yi Zhi Zhang) von Huang Fuzhong und Wang Kentang aus der Ming-Dynastie findet sich folgende auf drei Kräuter reduzierte Version von Bai Tou Weng Tang:

Pulsatilla-Dekokt (Bai Tou Weng Tang) aus Ming Yi Zhi Zhang:

Pulsatillae Radix (Bai tou weng),

Fraxini Cortex (Qin pi),

Coptidis Rhizoma (Huang lian), 

jeweils zu gleichen Teilen.

Indikationen: „Durchfall durch pathogene Hitze. Der Urin ist dunkel und das Wasserlassen stockend. [Hierbei handelt es sich um]Hitze-Dysenterie mit Nach-unten-Drücken.“

 (Ming Yi Zhi Zhang, Rolle 4)

Mit „Hitze-Dysenterie mit Nach-unten-Drücken“ beziehen sich die Autoren auf den Text des Shang Han Lun. Dann ergänzen sie noch, dass es bei diesem Muster auch zu einer Dysurie kommen kann. Somit gehören dysuretische Beschwerden wie bei einer Blasenentzündung auch zum Rezepturenmuster von Bai Tou Weng Tang, wofür es auch Anwendungsbeispiele aus der Praxis gibt.

Kommen wir nun zu anderen Variationen von Bai Tou Weng Tang, deren Rezepturenmuster sich von der ursprünglichen Rezeptur unterscheiden, weil zu den bitter-kalten Kräutern noch scharf-warme hinzugefügt wurden. 

In Sun Simiao’s Werk Tausend-Golddukaten-Rezepturen(Qian Jin Yao Fang) wird an zwei Stellen eine Variation des Pulsatilla-Dekokts aufgeführt, jeweils mit teils unterschiedlichen Indikationen. Trotz der umfangreichen Modifikationen hatte Sun Simiao den Namen Bai Tou Weng Tangunverändert beibehalten. Hier die Rezeptur:

Pulsatilla-Dekokt (Bai Tou Weng Tang) aus Qian Jin Yao Fang:

Pulsatillae Radix (Bai tou weng) 6g

Coptidis Rhizoma (Huang lian) 6g

Phellodendri Cortex (Huang bai) 6g

Fraxini Cortex (Qin pi) 6g

Magnoliae officinalis Cortex (Hou po) 6g

Poria (Fu ling) 6g

Asini Corii Colla (E jiao) 6g

Glycyrrhizae Radix (Gan cao) 9g

Paeoniae Radix Alba (Bai shao) 6g

Angelicae sinensis Radix (Dang gui) 9g

Aconiti Radix lateralis preparata (Zhi fu zi) 6g

Zingiberis Rhizoma (Gan jiang) 9g

Halloysitum rubrum (Chi shi zhi) 9g

Fossilia Ossis Mastodi (Long gu) 9g

Jujubae Fructus (Da zao) 30 Stück

Oryzae Fructus [Reis] (Geng mi / Jing mi) 12g

An einer Stelle findet sich folgende Beschreibung der Funktionen und Indikationen dieser Rezeptur: 

„[Diese Variation von]Pulsatilla-Dekokt (Bai Tou Weng Tang) klärt Hitze und stillt Durchfall. [Man]behandelt [damit]rote Dysenterie mit [rektalen]Blutungen, [Schmerzen und]Anspannung im Bauch und Tenesmen,was binnen eines Monats nicht geheilt ist.“ 

(Bei Ji Qian Jin Fang, Rolle 25; Qian Jin Fang, Rolle 15)

Und an einer anderen Stelle findet sich diese Beschreibung:

„[Diese Variation von]Pulsatilla-Dekokt (Bai Tou Weng Tang) behandelt roten, stockenden Durchfall und [rektale]Blutungen, was binnen eines Monats nicht geheilt ist.“ 

(Qian Jin Yao Fang, Rolle 15)

Trotz der Hinzufügung zahlreicher wärmend Durchfall stillender Kräuter, betont Sun Simiao, dass diese Rezeptur primär auf Hitze klärende Weise den Durchfall stillt. Der Patient hat sich also Hitze-Toxine durch die Nahrung zugezogen oder die Hitze-Toxine sind innerlich durch Transformation entstanden. Gleichzeitig scheint der Patient von schwacher Yang-Mangel-, also Kälte-Konstitution zu sein, so dass Sun Simiao es nicht wagte, dem Patienten ausschließlich bitter-kalte Kräuter wie in der Originalrezeptur von Bai Tou Weng Tangzu verschreiben. Der Patient zeigt eine komplexe Präsentation aus erworbener Hitze und konstitutioneller Kälte. Er hat blutigen Durchfall, aber vermutlich ohne Durst, jedoch mit kalten Händen und Füßen, Kälteabneigung und einer blassen oder blass-roten Zunge.Man könnte auch sagen, dass der Patient Kälte in der Mitte und Hitze im unteren Wärmebereich hat. Tatsächlich ist das wärmend Durchfall stillende Kraut Zingiberis Rhizoma (Gan jiang) mit 9g sogar höher dosiert als die bitter-kalten Kräuter Pulsatillae Radix (Bai tou weng), Coptidis Rhizoma (Huang lian), Phellodendri Cortex (Huang bai) und Fraxini Cortex (Qin pi), die niedriger als in der Originalrezeptur mit jeweils nur 6g dosiert sind. Verstärkt wird die wärmende Wirkung von Zingiberis Rhizoma (Gan jiang) noch durch Aconiti Radix lateralis preparata (Zhi fu zi), was gleichzeitig noch eine schmerzstillende Wirkung hat. Da diese Rezeptur auch Glycyrrhizae Radix (Gan cao) enthält, könnte man sagen, dass Sun Simiao hier das Pulsatilla-Dekokt (Bai Tou Weng Tang) mit dem Kalte-Extremitäten-Dekokt (Si Ni Tang) kombiniert hat. Dass Glycyrrhizae Radix (Gan cao) hier mit 9g relativ hoch doisert ist, weist darauf hin, dass der Patient durch den starken Durchfall viel Flüssigkeit verloren hat, denn mit Glycyrrhizae Radix (Gan cao)kann man Flüssigkeiten im Körper bewahren.

Außerdem benutzt er die adstringierenden mineralischen Substanzen Halloysitum rubrum (Chi shi zhi) und Fossilia Ossis Mastodi (Long gu) zum Stillen von Durchfall und Blutungen. Zum Stillen von Blutungen finden wir hier auch wieder die Eselshautgelatine Asini Corii Colla (E jiao). Hier finden wir Asini Corii Colla (E jiao) auch wieder mit der Süßholzwurzel Glycyrrhizae Radix (Gan cao) kombiniert und mit den Blut nährenden und Bauchschmerz lindernden Kräutern Paeoniae Radix Alba (Bai shao) und Angelicae sinensis Radix (Dang gui). Zum einen sind diese Kräuter dafür gedacht, den durch blutigen Durchfall erlittenen Blutverlust auszugleichen, zum anderen wirkt die Kombination aus Glycyrrhizae Radix (Gan cao), Paeoniae Radix Alba (Bai shao) und Angelicae sinensis Radix (Dang gui) entspannend und schmerzstillend auf den krampfartig verspannten Bauchraum. Sun Simiao erwähnt hier die Symptome „Anspannung im Bauch und Tenesmen“ und was er „stockenden Durchfall“ nennt, ist auch nichts anderes als so genannte Bauchkrämpfe mit der Ausscheidung jeweils nur kleiner Mengen von Stuhl oder Blut. 

Dadurch, dass wir zusätzlich noch Poria (Fu ling) in der Rezeptur haben, erschließt sich auch die Idee der Rezeptur Chinesische Angelika- und Päonien-Pulver(Dang Gui Shao Yao San), die ebenfalls krampfartige Bauchschmerzen behandelt. 

Mit Magnoliae officinalis Cortex (Hou po) enthält die Rezeptur auch ein Qi regulierendes und damit Bauchschmerz linderndes Kraut. 

Durch Reis (Geng mi), Süßholz (Gan cao)und die recht hohe Dosis der Jujuben (Da zao) wird die Rezeptur harmonisiert, geschmacklich abgerundet und spendet dem durch Durchfall ausgezehrten Patienten Zucker, Stärke, Aminosäuren und andere Mikronährstoffe zur Regeneration. 

Oben hatten wir erwähnt, dass wir die Originalrezeptur von Bai Tou Weng Tangauch zur Behandlung von akuten Episoden von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa oder Mb. Crohn anwenden. Demgegenüber wäre diese Variation vonBai Tou Weng Tangin der subakuten oder chronsichen Phase geeignet, wenn die Patienten neben Hitze im Darm mit Blut im Stuhl auch noch Blut-Mangel und Yang-Mangel in anderen Körperbereichen zeigen.

Eine ähnliche Variation von Bai Tou Weng Tangfindet sich auch im klassischen Werk Wichtiges und Vertrauliches aus der Kaiserlichen Bibliothek(Wai Tai Mi Yao)von Wang Tao aus dem Jahre 752. Dies ist ebenfalls ein Werk, das viele Rezepturen aus dem Shang Han Za Bing Lunübernommen, bevor dieses verloren ging. Aber auch hier finden sich gravierende Modifikationen der Originalrezeptur aus dem Shang Han Lun:

Pulsatilla-Dekokt (Bai Tou Weng Tang) aus dem Wai Tai Mi Yao:

Pulsatillae Radix (Bai tou weng) 6g

Zingiberis Rhizoma (Gan jiang) 6g

Glycyrrhizae Radix preparata (Zhi gan cao) 3g

Angelicae sinensis Radix (Dang gui) 3g

Coptidis Rhizoma (Huang lian) 4,5g

Fraxini Cortex (Qin pi) 4,5g

GranatiPericarpium(Shi liu pi) 3g (bei frischer Schale 6g)

Diese Rezeptur verzichtet auf die bitter-kalte Droge Phellodendri Cortex (Huang bai) und halbiert die Dosen der ebenfalls kalten Kräuter Coptidis Rhizoma (Huang lian) und Fraxini Cortex (Qin pi). Stattdessen werden der wärmend Durchfall stillende getrocknete Ingwer Zingiberis Rhizoma (Gan jiang), die warm-adstringierende Granatapfelschale GranatiPericarpium(Shi liu pi), die Blut nährende, Mitte wärmende und Bauchschmerz stillende Angelikawurzel Angelicae sinensis Radix (Dang gui) und die harmonisierende und entspannende Süßholzwurzel Glycyrrhizae Radix preparata (Zhi gan cao) hinzugefügt. 

Aus einer kalten Hitze klärenden Rezeptur ist also eine wärmend-adstringierende Mischung geworden, die aber gleichzeitig noch die im Darm vorhandenen Hitze-Toxine ausleitet. Anders als im Shang Han Lunist dort nicht von Hitze-Dysenterie, sondern von Kälte-Dysenterie die Rede, wobei eine „Dysenterie“ quasi immer auch einen Anteil von Hitze beinhaltet. Dort heißt es: 

„[Diese Variation des]Pulsatilla-Dekokts (Bai Tou Weng Tang) behandelt Kälte-Dysenteriemit krampfartigen und stockenden Durchfällen.“

(Wai Tai Mi Yao, Rolle 25)

„Kälte“ bezieht sich hier weniger auf den auslösenden pathogenen Faktor, als vielmehr auf die Konstitution und Symptomatik des Patienten. Aber wie die Krankheitsbezeichnung Dysenterie schon sagt, handelt es sich auch hierbei um Durchfälle mit Schleim und Blut. Jedoch wird die Begleitsymptomatik hier eine andere sein. Beim ursprünglichen Rezepturenmuster hat der Patient Hitze-Zeichen wie Durst, dunklen Urin, Fieber, warme Hände und Füße etc. Beim Rezepturenmuster der Rezepturvariante aus dem Wai Tai Mi Yaohat der Patient begleitende Kälte-Zeichen wie kalte Hände und Füße, keinen Durst, Vorliebe für Wärme, Kälteabneigung, klaren Urin etc.

Bai Tou Weng Tangist also mehr als eine einzelne Rezeptur zur Behandlung von akuter Dysenterie. Es gibt eine Serie von abgewandelten Rezepturen, mit denen man auch subakute und chronische Durchfallerkrankungen behandeln kann, insbesondere auch chronisch entzündliche Darmerkrankungen. Je nach Symptomatik des Patienten und konstitutionellen Merkmalen kann man unterschiedliche Variationen dieser klassischen Rezeptur anwenden oder auch eigene Variationen davon kreieren.